,Realität oder Wirklichkeit

Eine Geschichte von der Entwicklungstherapeutin Felice Affolter hat mich auf einen kleinen Unterschied aufmerksam gemacht.

Als ihr Buch über die Frühentwicklung des Kindes „Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache“ ins Englische übersetzt werden sollte, schlug der Übersetzer für das Wort „Wirklichkeit“ das englische Wort „Reality“ vor.

Das wurde von Felice Affolter abgelehnt mit der Begründung, das es keine sinngemäße Übersetzung sei. „Reality“, sagte sie, kommt vom lateinischen „Res“ und das meint „Dinge“, Sachen, ein passives Gegenüber. Aber „Wirklichkeit“ hat mit „wirken“ zu tun und mit Handeln, /Zitat nach Pickenhain, Basale Stimulation, 1998/. Das was wir bewirken, oder auf uns wirkt, umfasst auch anderes als Dinge, das können auch Meinungen, Vorstellungen, Sichtweisen, Traumata sein. (Ihr Buch erhielt dann im Englischen den Titel „Perception, Interaction and Language“, weil es im Englischen kein identisches Wort für die von ihr gemeinte Bedeutung von „Wirklichkeit“ gibt).

Inwieweit es einen Unterschied gibt zwischen Realität und Wirklichkeit könnte man sich angesichts der Geschichte fragen, die ein Kollege in einer Supervisionsstunde erzählte.

In die Klinik, in der er arbeitet, kam vor einiger Zeit ein Mann, dem ein Arm amputiert worden war. Der Mann empfand starke Phantomschmerzen in seiner amputierten Hand, so als ob seine Hand ganz stark zu einer Faust zusammengepresst wäre. Er wußte nicht mehr was er noch tun könnte gegen die Schmerzen in einer Hand, die es in der Realität gar nicht gibt, die aber in seinem Erleben sehr lebendig ist.

Durch Zufall stolperte er eines Tages und fiel nach vorn. Reflexartig streckte er seine „beiden“ Hände nach vorn aus, um sich abzufangen – die reale und die Phantomhand. Dabei öffneten sich die Finger seiner Phantomhand und das Gefühl einer zusammengepressten Faust und die Schmerzen waren weg.

In späteren Feldenkrais-Stunden lernte er mit der Zeit sein inneres Körperbild an seine körperliche Realität besser anzupassen. Was war in seinem Fall die Realität – und was die Wirklichkeit.

Die schlanke dicke Frau

Meine Frau hatte eine gute Freundin. Sie war Tanzlehrerin.
Als wir sie eines Tages wieder besuchten  kam das Thema darauf, dass sie sich eigentlich immer zu dick fühlte und deswegen immer nur wenig esse. Ich war erstaunt, als sie das von sich sagte, denn sie war eine eher schlanke Frau. Als ich beobachtete, wie sie sich bewegte, hatte ich eine Idee. Ich fragte sie, ob sie Lust hätte mal was auszuprobieren. Als sie zustimmte fragt ich sie  „ Sabine, wenn du vorwärts gehst –  Wo beginnen deine Beine im Becken, d. h. Wo sind für dich deine Hüftgelenke – und von wo aus  bewegst du dein Bein nach vorne?“ Sie deutete auf  die am weitesten außen liegenden Punkte ihres Beckens.  Tatsächlich liegen anatomisch die Hüftgelenke sehr viel weiter innen zur Körperachse hin, da die Oberschenkelknochen  von den Hüftgelenken aus zunächst nach außen gehen und dann erst Richtung Knie. Ich beschrieb ihr das und schlug ihr vor sich beim Gehen vorzustellen, dass sie von den weiter innen liegenden Hüftgelenken aus ihre Beine bewegt.   

Als Tanzlehrerin konnte sie diese Vorstellung relativ schnell umsetzen und ihre Bewegung veränderte sich von außen gesehen deutlich und wirkte eleganter und geschmeidiger. Sie spürte dieser Bewegungsmöglichkeit eine Weile nach und meinte dann „Jetzt fühle ich mich merkwürdigerweise nicht mehr so dick, sondern schlanker, wie kann das sein?“

Die Vorstellung hatte ihr Körperbild von sich verändert (und ersparte nach einiger Übung mit diesem neuen Bewegungsbild weitere Diäten).

Körpersprache

In eine Feldenkrais Stunde kam eine Frau, die über Kopfschmerzen, sowie Schmerzen im Nacken und im Kiefer klagte.

Während sie auf der Liege auf ihrem Rücken lag und ich ihren Kopf in den Händen hielt, fragte ich sie etwas. Während sie mir antwortete, spürte ich, wie beim Sprechen ihr ganzer Kopf, Nacken und Brustkorb sich anspannte und fest wurde. Als ich sie bat während dem Sprechen ihren Kopf etwas zu drehen, war es ihr nicht möglich.

Sie selbst konnte ihre Anspannung zunächst nicht wahrnehmen. Erst als ich sie bat ein paarmal den Kopf zu drehen ohne zu sprechen und dann jedesmal, wenn sie anfing zu Sprechen das Kopfdrehen nicht weiter möglich war, wurde es für sie spürbarer, wie Sprechen die Beweglichkeit von ihrem Kopf, Nacken und Schultern deutlich beeinflusste.

Während ich ihren Kopf wieder in den Händen hielt, bat ich sie dann an bestimmte Situationen und Gespräche nur zu denken. Interessanterweise spannte sich ihr Kopf und Nacken auch dabei oft deutlich an und wurde unbeweglich.  Das waren Situationen, in denen es für sie wichtig war von ihrem Gegenüber gehört zu werden. 

Meine Klientin und ich fragten uns beide, ob der „Nachdruck“, den sie hierbei ihren Worten verleihen wollte, sich unwillkürlich im Festwerden des Nackens und Brustkorbs durch ihren Körper ausdrückte und dadurch mit zu ihren Kopf- und Nackenbeschwerden beiträgt.

Zum Denken gehört auch der dazugehörige situationsgemäße Gefühlzustand. der sich auch beim „nur Denken“ im Körper in den Muskeln und der Haltung manifestiert. Wir denken oft in Worten, so dass Denken und Sprechen das gleiche sind. Dann ist Denken eine Form von Tun, zu der auch die situationsgemäße Körperhaltung gehört. Daher werden oft auch beim Denken die Muskeln aktiviert, die wir im Körper beim Sprechen benutzen (Haben sie schon mal beobachtet, dass man sich meist dann verschluckt, wenn man gerade dabei ist an etwas zu denken  und gleichzeitig etwas schlucken will?)